Zur guten Beratung gehört für mich immer auch das weiter Denken. Im Sinne von Vorausschauen. Im Sinne von Entwickeln. Im Sinne von Erweitern. Weiter denken und weiterdenken. Das gilt auch für die Frage, ob und in wie weit Coaching und Supervision wissenschaftlich fundiert sind. Wünschenswerterweise ist das so. Doch was ist eigentlich genau mit wissenschaftlich gemeint?
Kürzlich verwendete ich in der Beschreibung eines gemeinschaftlichen Beratungsprofils den Begriff "humanwissenschaftlich" und stieß damit bei einem Kollegen auf Irritation. Was sollte denn damit gemeint sein? Das veranlasste mich zum Weiterdenken. Der Begriff schien zu unpräzise und wir einigten uns zunächst darauf, das "human" zu streichen. Was übrig blieb, fand ich irgendwie unbefriedigend. Dieses dürre, nichtssagende "wissenschaftlich" veranlasste mich zur Recherche. Offenbar ist der Terminus Human Science im Angelsächsischen gebräuchlicher, es gibt jedoch auch zunehmend deutsche humanwissenschaftliche Fakultäten, die mit dieser Bezeichnung auf Interdisziplinarität „rund um den Menschen“ abzielen.
Parallel erhielt ich kurz darauf – Zufall oder nicht – eine Dissertation im Fach Psychologie zum Gegenlesen. Die Beschreibung des dort geforderten wissenschaftlichen Ansatzes löste ein kleines Aha-Erlebnis aus, denn ein grundlegendes Zitat lautete: „Science cannot study what it cannot measure accurately and cannot measure what it does not define.“ Zunächst nahm ich erstaunt zur Kenntnis, dass viele Psychologen sich als Naturwissenschaftler (Dr. rer. nat.) verstehen und dann fiel mir ein Phänomen aus der Coaching-Praxis ein, das mir schon öfter begegnete.
Da war zum Beispiel das Statement einer hochqualifizierten Kollegin, mit der ich Coaching-Seminare für Wissenschaftler an Hochschulen durchführte. Ihr zentraler Satz war: “Ich will hier nichts machen, was ich nicht genau begründen kann”. Das klang höchst vernünftig, besonders in der Arbeit mit Wissenschaftlern. Dennoch erzeugte es bei mir nachhaltigen – zunächst nur inneren – Widerspruch, da ich lieber erfahrungs- und erlebnisbasiert arbeiten wollte.
Sowohl Supervision als auch Coaching sind für mich professionelle theorie- und vor allem erfahrungsbasierte Praxis. Dabei geht es um zwischenmenschliche Praxis, die wesentlich von Kommunikation, Kontakt sowie Intuition lebt und bei der es eher nicht auf Messbares und exakt Begründbares ankommt. Schon seit Längerem stellte sich mir die Frage: Arbeite ich dann nicht “unwissenschaftlich”? Und wenn das so sein sollte, wäre das schlimm angesichts der eindeutigen praktischen Erfolge?
Die Auflösung scheint mir mittlerweile in einer Differenzierung des Wissenschaftsbegriffes zu liegen. Es gibt eine eher naturwissenschaftlich basierte Wissenschaftlichkeit, die zu meinem Erstaunen auch die deutsche universitäre Psychologie weitgehend prägt. Und es gibt eine Wissenschaftlichkeit, die ich hilfsweise humanwissenschaftlich nannte, für die es aber auch den wissenschaftstheoretischen Terminus "heuristisch" gibt. Dazu fand ich zwei erhellende, mir beratungsnützliche Definitionen:
“Heuristik bezeichnet die Kunst, mit... unvollständigen Informationen und wenig Zeit zu guten Lösungen zu kommen. Es bezeichnet ein analytisches Vorgehen, bei dem mit begrenztem Wissen über ein System mit Hilfe von mutmaßenden Schlussfolgerungen Aussagen über das System getroffen werden.” (Wikipedia)
“Vorgehensweise zur Lösung von allg. Problemen, für die keine eindeutigen Lösungsstrategien bekannt sind oder aufgrund des erforderlichen Aufwands nicht sinnvoll erscheinen...Heuristik wird v.a. in schlecht strukturierten und schwer überschaubaren Problembereichen angewendet.” (Wirtschaftslexikon Gabler)
Gute Lösungen, begrenztes Wissen, schwer überschaubare Problembereiche – das sind wesentliche Merkmale, die die Praxisfelder von Coaching und Supervision markieren. Also ist Beratung humanwissenschaftlich, wenn sie heuristisch vorgeht. Und vielleicht ist es dann eher nicht sinnvoll wissenschaftlich, wenn wir erwarten, dass beratungsbezogene Kommunikationsvorgänge und zwischenmenschliche Dynamiken sich exakt messen, evaluieren oder gar vorhersagen lassen.
Also, weiter denken.